"Die Ära des Wassermanns", Stella-2018

 

 

 

Der Karneval

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Eine kleine mittelalterliche Stadt lag in einer wundervollen Ecke vom Mütterchen Europa in einem Tal zwischen Bergketten mit den beschneiten Spitzen.

Alle ihre Straßen führten zu dem Marktplatz, der mit einer Turmuhr auf dem Rathaus geschmückt war. Der Platz versetzte einen in Erstaunen - mit seinen hübschen Figuren von Königen, Zauberern, Rittern und schönen Damen, die in einem Laufkreis jedes Mal zum Leben erweckt wurden, sobald die Glocke zu klingen begann. Sehr nette und freundliche Einwohner dieser Stadt – Gefühle und Emotionen - waren alle unter einander bekannt, miteinander befreundet und wohlwollend. Jeder respektierte die Würde des anderen und redete nicht über dessen Schwächen. Sie nahmen einander einfach so an, wie sie waren.

Das milde Klima hatte dazu beigetragen, dass alle Häuser fast das ganze Jahr über im Grün eingebettet waren, was die Stadt beinahe zu einen botanischen Garten machte. Trotzdem unterschieden sich die einzelnen Gebäude stark voneinander, wie auch die Charaktere derjenigen, die in diesen Gebäuden wohnten.

In dem zum Rathaus nächststehenden Fachwerkhaus wohnten das Lachen und die Freude. Es war immer sonnig bei ihnen: Entweder weil die Sonnenblumen, mit orangenen Wanzenblumen gemischt, alle Loggien bewohnten, oder weil die Fensterbänke des Hauses mit rotweißen, flauschigen Gänseblümchenköpfen bestreut wurden. Wie es schien, ließ der lustige Charakter der Hausbesitzer mit ihrem Lächeln unter anderem auch den ganzen Marktplatz der Stadt erstrahlen.

Die Nachbarvilla wurde von dem Eifer und der Leidenschaft bewohnt. Der Duft der hier wachsenden wundervollen Orchideen, Hibisken, Pfingstrosen bewegte und regte die ganze Gegend auf. Die Ruhe verschwand vor den lila Nelken und Ringelblumen sofort und den Passanten wurde es schwindelig.

Daneben befand sich die Villa der Begeisterung und der Euphorie. Balkone und Terrassen, die mit Fässern rotgelber Rosen vollgestellt wurden, rivalisierten mit den Parterres um das Haus herum, die mit riesigen Mohnblumen bestreut waren.

Auf der anderen Seite des Platzes überraschte ein Gebäude mit seiner Pracht, das reich mit eitlen Narzissen und stolzen Gladiolen geschmückt wurde. Da herrschten der Egoismus und der Hochmut. Etwas weiter entfernt wurde die Aufmerksamkeit von einem Haus angezogen, das dem Betrug und der Lüge gehörte. Alle seine Wände wurden vom Efeu umrankt. Die Fenster waren mit Kisten voll berauschender Hyazinthen und verdächtiger Begonien bepflanzt.

Die nächsten Nachbarn waren das Interesse und die Sympathie, die sich gemütlich in einem Einfamilienhaus niedergelassen hatten, wo überall Dahlien blühten.

In einer Straße, die vom Stadttor runter zum Markt führte, wurde man auf ein Haus aufmerksam, das von verschiedenen Kakteen von ungesehener Größe umringt war. Seine Bewohnerinnen, die Wut und die Beleidigung, hatten öfter Streit wegen Kleinigkeiten miteinander gehabt. Sie überhäuften einander mit Sticheleien, die, wie es schien, den ganzen Raum rund herum aufluden. Der Weg, der zum Haus führte, wurde immer enger durch die unaufhaltsam von allen Seiten heran rückenden Kakteen, welche die rar gesäten Sträuße der Petunien schon fast verschlungen hatten.

Sehr kontrastreich im Vergleich zu den anderen Häusern sahen die langweiligen Wände eines seltsam unfreundlich wirkenden Gebäudes mit immer geschlossenen Fensterläden und einer großen knarrenden Tür, die direkt auf den Bürgersteig hinausging, aus. Die ganze Stadt kannte die hier lebenden Geschwister: die Gier und den Geiz. Um vollkommen leere Balkone irgendwie zu schmücken, hatte der Wind, dieser Scherzkeks, keine Gelegenheit ausgelassen, die Samen irgendwelchen Unkrauts oder tauber Blüten dort anzuwehen.

Und in einer anderen Straße, die in der Schneise des nahen Kiefernwaldes verschwand, war ein Einfamilienhaus zu sehen, das im Dickicht von Jasmin und Flieder zu schweben schien. Alles wurde mit Geheimnissen gefüllt, mit Seligkeit und Vergötterung gesättigt. Hierhin hatten sich das Flüstern und die Melancholie zurückgezogen. Man hörte die glücklichen Frischvermählten fast gar nicht. Sie

Sie wurden auch von den Besitzern eines kleineren Hauses ihnen gegenüber, der Scham und der Schüchternheit, nicht gestört. Weitverzweigte prachtvolle Mimosenzweige bedeckten dort die Blumenbeete mit den Veilchen.

Ganz in der Nähe vom Tor der Stadtfestung, am Fuße des Berges lag das große Gutshaus von dem Erfolg und der Dankbarkeit. Die Terrassen dieses Chalets wurden mit Weizenbündeln – den Symbolen des Reichtums und Aufblühens - geschmückt. Gepflegte Orangerien, unzählige Treibkästen und Blumenbeete nahmen den ganzen Raum ein. Überall herrschte Fleiß, und der Duft des Wohlergehens überfüllte die Gegend.

Ein paar Viertel von ihnen entfernt befand sich eine Villa im romanischen Stil, die der Langeweile und dem Pessimismus gehörte. Sie hatten öfters ihre Verwandten - den Schlaf und die Faulheit - für längere Zeit zu Gast. Es schien, als ob die grüne Schwermut überall ausgeschüttet wurde. Phloxen und Hortensien verloren gegen den im hohen schläfrigen Gras mit den eifrigen Köpfchen schwankenden Lavendel den ungleichen Kampf.

Noch einige Viertel entfernt, einem Haus gegenüber, das von ständig in Panik zitternden Espen und gewundenen Gittern umringt wurde, und dessen Besitzer die Unruhe und die Angst waren, siedelten sich das Weinen und die Träne an. Bei keinem in der ganzen Stadt wuchsen so viele Maiglöckchen wie bei ihnen, von der ganzen unvorhersehbaren Welt durch Trauerweiden abgetrennt.

Ein Bach trennte ihr Anwesen von der Nachbarin – der Witwe Nostalgie, ihr Ufer wurde schon im Frühjahr mit einem Teppich aus Schneeglöckchen bedeckt. Daran erinnerte sie sich nachher das ganze Jahr über träumerisch.

In der Nähe des Klosterhofs befand sich die Villa der Intuition und des Zitterns, wo die immer raschelnden Birken sich über die Blumenbeete mit den Gerbera beugten. Von den Terrassen hatte man eine faszinierende Aussicht auf den Teich, der mit riesigen breiten Blättern der wunderschönen Lotosblumen bedeckt war.

In der Nachbarschaft befand sich auch das, für diese Gegend seltsame, Haus des Enthusiasmus und der Hoffnung. Das flache Dach, Nischen und Loggien, der Rasen rings umher waren mit weißem Heidekraut und Anemonen ausgelegt.

Als schönster Ort in der ganzen Stadt galt ein Park direkt hinter dem Rathaus. Alle seine Alleen endeten an einem malerischen See. Links konnte man das Einfamilienhaus der Schwestern Zärtlichkeit und Herzensgüte sehen, vor dem Haus wurden die Raine mit Kornblumen und Kamillen bedeckt. Töpfe mit Freesien prangten in jedem Fenster. Diese Lieblingsblumen hatte ihre Cousine, die Anhänglichkeit, die sie öfters besuchte, von überall mitgebracht.

Am anderen Ufer des Sees, in den Büschen der umwerfend aussehenden Rosen versank die Villa, wo die Pflicht und die Treue mit ihrem jungen Pflegekind, der Liebe, wohnten. Schöne Blumen schmückten alle Balkone und Terrassen, Rasen und Alleen. Charme und Wohlgeruch füllten die ganze Gegend.

 Andere Häuser - Einfamilienhäuser und Villen der Stadt - ihre Balkone, Loggien, Fensterbänke, Terrassen, Parterres und Vorgärten wurden auch mit Blumen geschmückt. Darunter behauptete die Geranie eine Vorrangstellung, die den Raum vor allem Bösen beschützte. Vielleicht deswegen blieb die Atmosphäre in der Stadt immer so einnehmend und wohlwollend.

Das gemessene und ruhige Leben der Einwohner, von Handelsmagistralen und historischen Erschütterungen weit entfernt, lief von einem Jahrhundert in das andere genau so weiter.

Aber einmal erschien ein neues Gesicht in der Stadt.

Der überall auf der Welt reisende Neid hatte für sein Leben immer noch keinen passenden Platz gefunden. Er war ein entfernter Verwandter der Verzagtheit. Am Anfang, als der Neid aus Neugier in diese Stadt eigezogen war, fand er sie ganz nett und hübsch. Der Neid kaufte sich dann eine riesige Villa. Die schönsten Blumen, die er jeweils gesehen hatte, füllten den ganzen Bereich ums Haus und außerhalb davon. Die prachtvolle Ausstattung suchte seines Gleichen. Die prunkvollen Gemächer wurden mit unzähligen Kunstgegenständen, Juwelen und … der Einsamkeit gefüllt.

Der finstere Neid konnte sich nicht freuen, denn das war nicht in seinem Sinne. Wenn man auf jemanden neidisch ist, liebt man diese Person nicht. Deswegen liebte der Neid die Stadtbewohner nicht. Die Eintracht und die warmen Beziehungen in ihren Familien waren für ihn bitterer als die Verzweiflung. Denn er kannte weder Großmut noch wohlwollendes Verhalten. Er nutzte jede Möglichkeit, um die Nachbarn zu beschimpfen; die ihm auffallenden Mängeln der anderen hatte er mit Vergnügen vermehrt – denn seine Zunge war voll von Übertreibung und Galle. Der Neid rief Zwietracht unter den Einwohnern hervor, schmiedete Ränke. Er konnte einfach nicht glücklich sein, denn das größere Glück der anderen quälte ihn.

Die Zeit verging, und die Laune des Neides änderte sich nicht, sie wurde einfach nicht besser. Der nächste Winter ging zu Ende. Draußen war es nicht so nass und dumpf, im Vergleich zu dem, wie der Neid sich fühlte. Es wurde ihm unangenehm. Ruhelos wanderte er in seinem prachtvollen Haus umher oder saß vor dem Kamin. Die Magie des Feuers ist schon ewig bekannt: Wenn man es länger anschaut, hilft es, das Gefühl von Unruhe, Hektik und Seelendämmerung zu beseitigen. Aber wenn in einer Seele sich die Leidenschaften entbrennen, so werden sie noch stärker in Flammen stehen, wenn man das Feuer anschaut.

So überlegte sich der Neid einen bösen Plan. Wieso konnte man diese jahrhundertelange Ruhe, diesen Wohlstand nicht in die Luft sprengen? Und sich damit an den Einwohnern für dieses unerträglich bittere Gefühl rächen.

Lange hatte er überlegt: Wovor ist es immer sehr schwer zu widerstehen? Vor der Verführung. Dann fing seine Phantasie sofort an, sich Verführungen auszudenken. Die Seligkeit und das Nichtstun, die Abschaffung aller Verbote sollten es sein. Wie konnte man sich so eine besondere Kommunikationsweise ausdenken, die im gewöhnlichen Leben zwar unmöglich wäre, aber von den gewöhnlichen Normen der Etikette und der Anständigkeit frei wäre und keine Abstände akzeptierte? Da entschloss sich der Neid, ein großes Spiel zu veranstalten – ein karnevalistischer Maskenball – so eine Grenzzone zwischen realer Welt und Phantasie, wo man sich anders fühlen konnte, als im gewöhnlichen Leben. In so einer illusorischen Welt könnte keiner dem Genuss widerstehen, sich zu entspannen, sich ungewöhnlich zu verkleiden und im rasenden Tempo der Karnevalsfreiheit zu wirbeln, sich ein bisschen verrückt zu fühlen.

Wieso konnte man die strengen Bräuche durch die lustige Unzucht nicht ersetzen, verantwortungslos flirten, alle anständigen Regeln ignorieren? Denn alles ist möglich, wenn das Gesicht unter einer Maske verdeckt ist! Wer wollte sich nicht so amüsieren wollen, dass man sich nachher nicht wegen seinen Emotionen, Gedanken, Worte, wegen seinem Verhalten schämen musste? Der geplante Karneval gab diese Möglichkeit, in der Welt der Geheimnisse, Intrigen und Abenteuer zu leben!

Der Neid war kein schlechter Psychologe, denn er dachte, dass es keine bösere Sucht gab, als die Frechheit, weil die die Mutter aller Süchte war.

Fast die ganze Stadt versammelte sich zu dieser Feier des Neids. Die Welt des Karnevals rief eine wahnsinnige Leichtsinnigkeit hervor, provozierte sie. Alles in der Tiefe Verborgene kam jetzt heraus.

Alle Gefühle und Emotionen probierten mit Vergnügen unterschiedliche Masken an. Bei dem einen waren seine Unentschlossenheit, Anstrengung und Befangenheit verschwunden, die Peinlichkeit wegen der Selbstunsicherheit war weg. Das Lachen fing an, Spott in einem schwindelerregenden Tanz mit der Lüge zu verstreuen. Die Leidenschaft hatte eine erstaunliche Romanze mit dem Egoismus.

Entzückend wirbelten die Scham und die Träne, die Schüchternheit und die Angst in einem Walzer herum. Und die Langeweile erlebte ihr früher unbekanntes Vergnügen in den Umarmungen des Eifers. Die Faulheit und das Flüstern zogen sich ständig in die Gartenlauben, in sehr einsame Ecken zurück, manchmal haben sie dabei Melancholie und Schlaf gestört, die bereits zuvor da waren.

Der Zorn und die Habgier, miteinander verantwortungslos flirtend, bildeten sich ein, dass sie die beliebtesten auf diesem Karneval wären. Der Hochmut und der Betrug überlegten sich sogar, die Macht in der Stadt an sich zu reißen und die vorher etablierte Selbstverwaltung abzuschaffen.

Es gab auch welche, die sich einfach erlaubten, ihren vorher schamhaft verdeckten Hass und ihre Rachgier zu zeigen. Viele vergaßen sich gern in dieser berauschenden Phantasmagorie und Traumhaftigkeit.

Da bemerkte der Neid plötzlich eine verlassen daliegende Maske.

Das war die Liebe, die keine Maske annehmen wollte, und die sehr schnell den Karneval verließ.

Da versuchte der listige und tückische Neid zu erreichen, dass die Anderen Masken trugen, die der Liebe sehr ähnlich waren. Das waren die Masken der wahnsinnigen, unglücklichen, ungeteilten, brüderlichen, gleichgeschlechtlichen, käuflichen, egoistischen Liebe, die Masken der Geldsucht und der egoistischen Selbstverliebtheit. Nach einer Weile verschwammen die Grenzen zwischen dem Gewünschten, Dargestellten und der Wirklichen.

In diesen Mengen der Masken war die Liebe einfach verschwunden. Wer weiß, vielleicht hatte sie die Stadt komplett verlassen, oder das Land, oder gar den Erdteil.

Seit dieser Zeit hatten mehrere Generationen gewechselt. Die Gefühle und die Emotionen vermischten sich.

Jetzt versteckten sie sich nicht mehr hinter den Masken, um die Anderen zu beeindrucken… Es besteht kein Bedürfnis mehr, das eigene Wesen zu verstecken. Freizügigkeit, Gleichgültigkeit, moralischer Nihilismus – das Fehlen der Vorstellung davon, was moralisch und was unmoralisch ist. Die Wörter „Liebe“, „lieben“ wurden zu einem einfachen, alltäglichen und bequemen Äquivalent irgendwelcher Gefühle, Emotionen, Anhänglichkeiten. „Ich liebe dich“ wurde dem „Du gefällst mir“ gleich. Und gefallen kann alles, was man sich nur vorstellen kann… karnevalistische „Paraden der Liebe“ zum Beispiel.

Schon seit langer Zeit wurden der Moral freier Geschmack und leichte Sitten beigebracht.

Die Karnevals überzogen die ganze Welt. Das ist eine Belustigung, ein Genuss. Sobald man einen Anzug oder eine Maske anhat – und schon kann man seine tief verdeckten Gefühle heraus lassen. Man kann sich fröhlich von den vorher gesammelten negativen Emotionen befreien, von der Last der Probleme, von der Fadheit des Arbeitsalltags. Das sind die Gefühlsentspannung und Demokratie – wo alle gleich sind, unerkennbar und zwangslos. Es ist sehr leicht, die Grenzen des Anstands zu überschreiten. Die Autoritäten werden ausgelacht.

Es ist so ein vorübergehendes utopisches Reich der Freiheit, Gleichheit und des Überflusses. Eine gute Illustration davon – ein großartiger Karnevalzug in Köln, wenn Süßigkeiten und Souvenirs tonnenweise in die Menge der Gaffer fliegen.

Jeder Karneval ist eine Feier. Wüsste man nur, wer die Musik bestellt, und begreife man, was zum Anschein kommt. Ist es ein Karneval der Kulturen, oder der der Blumen, oder ein Karneval der erstarkenden Minderheiten. Zum Beispiel ist es schwer, den Beitrag der Karnevals der Kulturen für die Toleranz zu unterschätzen, die den Respekt in Bezug auf verschiedene Weltkulturen und Völker zeigen.

Die Karnevals wurden früher als Veranstaltungen gedacht, die mit der Verabschiedung des Winters verbunden waren, sie sollten zu einem Moment der Naturerneuerung werden. Ist es so utopisch, wenn man vermutet, dass der Karneval zu der Erneuerung des geistigen Lebens eines Menschen wird? Man munkelt über ihn, dass er eine wundersame Heilprozedur mit einer Feier sein könnte – so was wie eine Sitzung in der Psychoanalyse.

 

… Eine meist verbreitete Pflanze, die bis jetzt noch die Häuser schmückt und schützt, bleibt die Geranie – wahrscheinlich eine einzige Blume, welche die Gefühle und Emotionen miteinander versöhnt.

 

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