Vor sehr langer Zeit lebte eine junge Frau in einer großen Siedlung deutscher Kolonisten an der Wolga, die damals mehr als vierhundert Höfe betrug, und nun völlig ausradiert wurde.
Als sie 18 Jahre alt war, wurde sie verheiratet. Die Ansiedlerfamilien hatten in der Regel acht bis zwölf Kinder. Ihr Mann Johannes war einer der ältesten Söhne, arbeitete tüchtig, soff nicht, schlug nicht, beschenkte reich, aber er war streng, zurückhaltend und wortkarg.
Wodurch hatte er damals ihre Aufmerksamkeit gewonnen? Durch einen schönen Maibaum vielleicht – ein dickes Bündel Birkenzweige, die an einer Stange gebunden und vor dem Tor ihres Elternhauses in der Nacht vor Pfingsten hingestellt waren? Genau das galt als große Ehre für ein Mädchen, denn nach diesem Ereignis wurde es zur baldigen Braut. Vielleicht zog er sie mit seiner Zackigkeit an, mit der er so flott auf den Festen während der Kirmes – des herbstlichen Patronatsfestes, getanzt hatte? Oder brachte sein würdiges Schweigen sie zum Staunen, während andere Kerle die grünäugige Schönheit mit Scherzen und Witzen von allen Seiten beredeten?
Die Jugend versammelte sich in der warmen Jahreszeit oft außerhalb des Dorfes auf einer Wiese, oder in der kalten Jahreszeit bei jemandem zu Hause, wo junge Leute sich näher kennenlernten, spielten und sangen. Johannes überholte alle Rivalen, indem er zum ständigen Begleiter der jungen Frau bei allen Veranstaltungen geworden war. Dann gab es eine schnelle Brautwerbung, Verlobung und ihr folgendes Katechumenat an den nächsten drei Sonntagen in der Kirche.
Aber die Zeit bis zur Hochzeit hatte gereicht, um zu lernen, die geschwitzten Hände nicht in den Rockfalten zu verstecken, dass ihr Gesicht beim Ansehen des Bräutigams sich nicht mit Röte überzog. Ihre Trauung fand am zweiten Weihnachtstag statt, wie bei dem anderen halben Dutzend Paare. Drei Hochzeitstage waren schon immer die meist einprägbaren Ereignisse im Leben. Damals blieben die heiratsfähigen Mädchen nicht lange in den Familien als unnütze Mäuler sitzen, deswegen waren sie zum Eheleben bereit. Eine Sache war, wenn es um den Traum ging, Mädchengeflüster, Blicke von den Jungs, eine ganz andere Sache war es aber, wenn der Zukünftige dir vorbestimmt und gegeben wurde, hier begann das weitere Leben Seite an Seite, Freude und Leid teilend.
Sehr bald wurde die junge Frau zur vollständigen Teilnehmerin des Arbeitslebens ihrer neuen Familie. Sie arbeitete im Feld, in der Scheune, am Webstuhl, am Spinnrad, nähte und stickte, machte die Hausarbeit und kochte.
Die Tage begannen und endeten mit Gebeten. Das gleichmäßige Leben wickelte die Jahre in der Ehe auf, aber das Schicksal beeilte sich nicht, das Ehepaar mit Kindern zu beschenken. Die Frühlinge lösten die Winter ab, die Lebensjahre flogen mit den Kranichzügen weg, und nach fast zwanzig Jahre der Ehe gab es keine Hoffnung auf eine Geburt.
Zu diesem Zeitpunkt lebten ihre Vorväter schon seit ein paar Jahrhunderten in diesen weiten Wolgagebieten, aus dem fernen Deutschland nach Russland ausgewandert. Obwohl die Nachkommenschaft ihre Lebensweise, Bräuche und Mentalität erhalten hatte. Eigentlich begriffen die Kolonisten genau, in was für einem großen Staat jetzt ihre Heimat war, aber die Ereignisse, die in diesem Staat geschahen, blieben nun jenseits ihrer Häuser. Aber es reifte eine Vorempfindung irgendwelcher globalen Lebensveränderungen.
Die einfachen Hausarbeiten wurden immer öfter mit den auf ihr Leben auflaufenden Nachrichten über die Februarrevolution in Petersburg und Saratow, über die kritische Lage an der Front unterbrochen. Männer wussten über die Situation viel mehr, Frauen fühlten dazu aber die drohende Gefahr für ihre Existenz.
Als unerwartetes Geschenk des Schicksals kam die Mutterschaft, um die sie so lange gebetet hatte, genau in diesem Moment. Schon im Frühjahr konnte sie ihrem Mann mitteilen, dass sie ein Kind erwartete. Die Natur vergalt den Fleiß hundertfach. Der Winter versprach satt und im Wohlstand verbracht zu werden. Die Äste der Bäume im Garten brachen fast unter der Last der Äpfel. Der Altweibersommer war schon lange zu Ende.
Es wurde immer schwieriger für die junge Frau, den Haushalt allein zu führen. Und an einem kalten Abend kam ein kleines Baby zu Hause auf die Welt. Der Vater wurde bisschen traurig, dass der so lange erwartete Erstgeborene kein Sohn war, aber gute Gefühle für seine Frau und die Kleine hatten ihn bald getröstet. Einen Sohn würden sie noch später bekommen können. Fast eine Woche genoss die Gebärende ihre Ruhe, da sie von allen Hausarbeiten befreit und in den freundlichen Sorgen der Umgebung gebadet wurde, die sie mit besonderem Essen, das nicht immer zur gemeinsamen Mahlzeit serviert wurde, und mit Leckereien verwöhnte.
Wie jede Mutter, wenn sie ein Kind bekam, entdeckte die Frau eine ganz andere Welt – neue Sorgen, neue Pflichten, neue Empfindungen. Nur die Träume, die sie manchmal fluteten, konnte sie weder erklären noch mit den anderen Erzählungen der Frauen aus ihrer Umgebung vergleichen. Ihre fühlende Angst malte solche schrecklichen Bilder, dass die Mutter fast in Ohnmacht fiel.
Sie war eine sehr fromme Katholikin, wusste über die Prophezeiungen aus dem Buch „Die Offenbarung des Johannes“, bemühte sich, nicht zu sündigen, verpasste nie den Sonntagsgottesdienst und das Abendmahl. In diesen Träumen sah sie genau die Bilder der Apokalypse: ihre Welt stürzte ein, Gebäude wurden zerstört, Leute starben. Sie sah noch irgendwelche dicht mit Brettern verkleideten Häuser, in denen die wegen dem schrecklichen Hunger verschwollenen Leute zu dGefangenen geworden waren; die grausam niedergeschlagenen Volksempörungen – furchtbare Zeit, die mit dem Preis von mehreren zehntausend Menschenleben bezahlt wurde.
Ein Ungeheuer mit der Sense und klaffendem Loch statt des Gesichts wuchs bald bis zu einem Riesen heran und fraß alle als Moloch, bald verwandelte es sich in eine kaum bemerkbare Blattlaus, die alles ringsherum vernichtete, keine Möglichkeit der Erde Früchte zu geben.
Da die unglückliche Frau das, was in ihren Träumen passierte, nicht verstand und damit völlig erschöpft war, konnte sie auch die noch unbekannten Namen der kommenden Ereignisse nicht wissen: „Kollektivierung“, „Entkulakisierung“, „Deportation“.
Als sie zu sich kam, versuchte sie ihrem Mann irgendwas zu erzählen, aber er wollte überhaupt nicht zuhören, er bekreuzigte sich nur abergläubisch.
Und als sie einmal einen unendlichen beschneiten Wald und gläserne Augen ihres Mannes mit einem schrecklichen Wolfsgrinsen im Traum gesehen hatte, verstummte sie schließlich ganz… aus Angst vor einem größeren Unglück. Ihre lautlosen Worte verflochten sich in ein unendliches Gebet für das Kind, für den Mann, für alle.
So kam Weihnachten, das letzte Weihnachten für sie. Sie spürte es. Die Welt trat in eine neue Epoche ein, die mit der Oktoberrevolution eröffnet wurde. Nur einige Tage später springt das Land in den neuen Kalender, dreizehn Tage überflogen und die Zeitrechnung nach neuem Stil eingerichtet, endlich die ganze Welt nachgeholt.
Es gab viel Schnee. Draußen war so ein starker Schneesturm, dass die Kirchenwächter alle Glocken die ganze Nacht läuten ließen, um den verloren gegangenen Wanderern zu zeigen, wohin sie gehen sollten. Man glaubte, dass keiner sich trauen würde, die Nase ohne besonderes Bedürfnis in diesem starken Sturm nach draußen rauszustecken. Aber Leute gingen reihenweise zu der Kirche.
Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir.
Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus, der in uns den Glauben vermehre, in uns die Hoffnung stärke, in uns die Liebe entzünde.
Der Gottesdienst war zu Ende, die Leute gingen auseinander. Die Frau blieb lange vor dem Kruzifix stehen.
- Mein Gott, erbarme dich unser, rette und beschütze uns. Rette mein Kind… rette auf Kosten meines Lebens… rette und beschütze mein Kind für ein besseres Leben.
Dann ging sie zu ihrer Lieblingsfigur, der Gottesmutter:
- Bete für uns, die Allheilige Patrona, rette und beschütze mein Kind…in der kommenden gottlosen Zeit nimm deinen Schutz von meinem Kind nicht weg…
Der Priester wollte ihre Gebetsmühe nicht unterbrechen, er ging in die andere Ecke der Kirche. Die Kerzen vor dem Altar waren schon lange erloschen. Nur die vor dem Eingang brannten noch. Fast dunkel. Aber als die Frau sich von den Knien erhob, hatte sie gespürt wie steif ihre Beine wurden.
Das war’s. Alles war gesagt. Ihr Glauben würde helfen, sich von der Kleinen zu verabschieden. Die Frau vertraute sie Gottes Vorsehung an. Sie glaubte an die heilige schützende Mutterliebe der Gottesgebärerin. Die ganze Kraft ihres Glaubens legte die Mutter in das Gebet um die Zukunft des Kindes.
Sogar der Sturm schien aufzuhören, als ob er sich schämte, dass er die ganze Mächtigkeit seiner eisigen Windstöße auf diese zarte aber furchtlose Frau gelegt hatte.
Aber die anderen Kräfte, die außer Kontrolle geraten waren, konnten ihre zerstörende Arbeit nicht mehr aufhalten, Pflügen für die auseinandergeworfene Spreu vorbereitet…
Die Frau erlebte noch, wie die Kirche mit Brettern vernagelt und der Glockenturm zerstört wurden. Sie erlosch wie eine Kerze ohne Sauerstoff… und nahm ihr Geheimnis mit. Im letzten Traum sah die Frau eine große schöne Kirche mit himmlischer Musik unter ihrem Gewölbe, da, wohin ihre Nachkommenschaft vielleicht zu einer Weihnachtsmesse gekommen war…
Die Kleine wurde damals gerade erst zehn Monate alt.
Wie kann man diesen mütterlichen Gebetsgroßtat verstehen, einschätzen? Wenn man weiß, dass sie ihr Kind auf Kosten des eigenen Lebens zum Waisenstand, zur freudlosen Kindheit, zum Leben mit einer grausamen Stiefmutter verurteilt hatte, und man glaubt, dass es dem Erhalt des Kindeslebens zuliebe gewesen war. Wenn man sich entschließt das Kind zu verlassen, an Gott glaubend, der es zuerst vor dem ersten schrecklichen Hunger rettet, während nur die Hälfte der Dorfleute überlebt, und dann - von einer noch schrecklicheren Seuche, die sich als Hochwasser auf die Weiten des Landes ausschüttet. Nur Gott schützt die Waise vor der ungeheuerlichen Deportation mit allen Landsleuten nach Sibirien, vor der Grausamkeit des Krieges und den Lagern und sogar später, im sich normalisierten Leben, vor dem Sterben unter den Trümmern während des katastrophalen Erdbebens in Aschchabad…
Fast ein ganzes Jahrhundert ist vorbei. Es ist noch Zeit bis zum Weihnachtsgottesdienst. Die Kirche ist leer, nur eine einzige Kerze brennt vor der Schale mit Oblaten. Draußen tobt ein richtiger Schneesturm, und hier, in dieser riesigen Kirche sind nur sieben Menschen, die lange vor dem Beginn der Messe gekommen sind.
Ich weiß nichts über meine Oma, sogar ihr Name ist bei keinem der fast verschwundenen Verwandtschaft im Gedächtnis geblieben. Und hier scheint es mir, als ob ich sie knien sehe, wie damals in der Kirche der deutschen Kolonie. Im 19. Jahrhundert aufgebau,t bleibt diese Kirche jetzt auch noch nicht bis zum Ende zerstört. An den Wänden kann man sogar noch ein Paar Fresken sehen - Szenen aus dem Evangelium. So blieb sie als Denkmal einem einst begnadeten Ort, um den das Leben einer der deutschen Kolonien im Wolgagebiet – Marienberg lief.
Ich bin froh, dass ich aus meiner atheistischen Kindheits- und Jugendzeit doch den Weg zur Kirche gefunden habe, wo ich schon seit zwanzig Jahren an dem Fest des ewigen Sakraments – der Erscheinung des Göttlichen Kindes teilnehme.
Im Flattern der Flammenzungen der Kerzen kann man den Widerschein der Tausenden Ereignisse sehen, wenn der Schöpfer und die Gottesmutter um Beistand und Hilfe gebeten wurden.
Dein Wille geschehe!...
Der Weihnachtsgottesdienst war zu Ende. Leute gingen die hell erleuchteten Straßen des Südbezirks von Berlin entlang vor der Kirche auseinander. Die geparkten Autos erinnerten an die eingeschneite Siedlung…